Verfeinerung des Bewusstseins 

 
 
 
Die psychologische Besonderheit der Kampfkünste hat nach dem Motto "Bewegung im Inneren, Form bzw. Gestalt nach aussen" zu den vielen Bewegungsmodellen der verschiedenen Kampfstile geführt. Nachdem man auf der Unterstufe die einfachen Formteile, umfangreichen Formen und Stosstechniken gelernt, die Elementarübungen praktiziert und die mentale Verfassung trainiert hat, wendet man sich den höheren Stufen der Kampfkünste zu. Jeder Stil konzentriert seine Übungsprinzipien und -methoden auf einem vergleichsweise engen Sektor typischer Bewegungen und durch endloses Üben und Wiederholen findet man zu den optimalen technischen Mustern. Auch diese Konzentration auf das Typische ist eine der aussergewöhnlichen, richtungsweisenden Besonderheiten der Kampfkünste. In jedem Stil gibt es klar definierte, strenge Bedingungen für Statik und Dynamik, d.h. Haltung und Bewegung der Hände, Augen, des Körpers, der Beine etc. Diese müssen nicht nur den technischen Anforderungen der Kampfkünste entsprechen, sondern auch den Prinzipien der Medizinwissenschaft und den Regeln der Energielehre folgen. Ausserdem müssen sie noch mit ästhetischen Vorstellungen hermonieren. 
 
Wer die verborgenen Fähigkeiten von Geist und Körper erst mal umfassend aktivieren kann und auf einem hohen Niveau sparsam mit diesen Energien umzugehen versteht, hat das höchste Bewegungsideal erreicht. Der sparsame Umgang mit den Lebensenergien ist eine elementare Fertigkeit, die im Rahmen der inneren Kampfkünste erworben wird. Sie ist auch das Grundprinzip der Gesundheitspflege und gilt deshalb zu Recht als ein originäres Merkmal der Kampfkünste. "Wille statt Gewalt", dynamisches Denken, höhere Wahrnehmung, Einheit von Natur und Mensch - dieses Prinzipien und die daraus abgeleiteten Methoden können alle störenden Spannungen nachhaltig beseitigen: Spannungen in den physischen und mentalen Reflexen und Instinkten, Antriebsschwäche, Widersprüche zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein und Spannungen, die von aussen einwirken (einschliesslich der Belastungen durch gegnerische Angriffe). Anders ausgedrückt, mit diesen Methoden gelingt es, alle überschüssige und kontraproduktive Spannung aufzuheben und dadurch beruhigend auf die bilologischen Anlagen von Körper und Geist einzuwirken, den Wirkungsgrad der oganischen Funktionen einerseits zu erhöhen und gleichzeitig Stoffwechsel- und Alterungsprozesse auf ein gesünderes Tempo zu reduzieren. Zusätzlich zu dem umfangreichen Trainingsprogramm und der komplexen, subtilen Theorie der Kampfkünste erlaub tdas den Übenden, sich auf einen "lenbens"-langen Weg zu begeben und unerwartete Erfüllung zu finden. 
 
Das schafft die Voraussetzungen für spirituelle Grenzüberschreitung und sinnvolle menschliche Begegnungen, während Körper und Geist heiter und gelassen bleiben; denn ein gesunder Körper und ein gesunder Geist, eine erfolgreiche und sinnvolle Existenz, rationelles Wirken, beachtliche Anpassungsfähigkeit und ungetrübte Lebensfreude gelten weltweit als die grundlegenden Geheimnisse für Gesundheit, Wohlergegen und langes Leben.
 
Alles, was Verletzungen verursachen kann, muss bei Partner- und Kampfübungen äusserst ernst genommen werden. Schon relativ unbedeutende Blessuren führen zu vorübergehenden physischen und mentalen Behinderungen, während schwere Verletzungen und Traumata lebenslange körperliche und mentale Pro bleme hinterlassen. Das sollte als elementare Weisheit respektiert werden.
 
Da die Kampfkünste weit über jedem gewöhnlichen Konkurrenz- und Kampfdenken stehen und zudem von der Medizinalwissenschaft konstruktiv geprägt sind, bilden sie ihrem Wesen nach ein vollendetes humanistisches System und eine gewaltlose Gelegenheit, in diesem, ihrem Sinne den Besten zu ermitteln. Wenn man die einzelnen Elementarübungen und Formen eines etablierten Übungssystems fleissig wiederholt, trifft man auf jeder Stufe auf ein entsprechendes, höheres medizinisches Faktum und ein dazu gehöriges energetisches Prinz9p. Bei Partnerübungen wird der Gegner auf altbewährte Manier getestet, indem man seinen Leistungsstand an einer einzelnen Geste oder Haltungsform misst, ohne Verletzungen zu risikieren. Derlei Methoden garantieren den Kampfkünstlern, dass sie ihre Selbstverteidigungstechniken weiterentwickeln und verfeinern können, während sie gleichzeitig gesundheitliche Fortschritte machen und auf dem Weg des Dao vorankommen. Nur eine solche humanistisch orientierte Tradition macht es möglich, dass man auch nach dem fünfzigsten Lebensjahr nicht nur unbeschränkt üben, sondern auch noch den Grundstein für unbegrenzte physische und geistige Weiterentwicklung legen kann. Selbst wer seine Ziele nicht so hoch steckt und die Kampfkünste nur für die physische Auseinandersetzung übt, aknn körperliche und geistige Blessuren durch diese formalisierten Wettbewerbsrituale deutlich einschränken und das Unfallrisiko auf ein Minimum reduzieren. Diese Art von Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen und im Verlaufe des Kampfkunsttrainings zu verwirklichen, gehört ebenfalls zu den Hauptmerkmalen der altehrwürdigen chinesischen Kampfkunsttradition. Die hoch perfektionierten Kampfkünste, in denen die Meister danach streben, "die Kraft des anderen ohne Kampf zu überwinden" und in denen sie einander auch ohne die minimalste Bewegung im Duell gegenüberstehen können, sind klassische Beispiele dafür, dass Praxis und Therie der Prinzipien nicht voneinander getrennt werden dürfen.
 
 
 
Aus dem Buch "Wie Weiches über Hartes siegt" von Shi Ming und Siao Weija